Zum Inhalt springen

18 Jahre Schulleiter: Öffentlich reden

Anlass: Amtseinführungsfeier
Ort: Aula
Vorbereitungszeit: unklar
Dauer: unklar
Text voll aufgeschrieben, aber recht frei gehalten, stellenweise improvisiert
Letzte Änderung: Eine Stunde vor Beginn
Allerletzte Änderung: 5 Minuten vor dem Halten

Voran: Ich hatte in der Einladungskarte ein Zitat vorangestellt, auf dass die Rede ein wenig Bezug nimmt. Es ist ein Auszug aus dem Roman „Schlaflose Tage“ von Jurek Becker, den dieser Ende der 70er schrieb. Ich habe dieses ausgewählt, weil ich daraus schon in meiner Abiturrede zitiert habe, 1989.

Über den vielgebrauchten Satz, die Schule sei dazu da, die Kinder aufs Leben vorzubereiten, darf er nicht vergessen, dass die Gegenwart ja schon das Leben der Kinder ist. Dass sie schließlich nicht Tote sind, die erst zum Leben erweckt werden müssen.

Ein guter Lehrer muss ein Verbündeter der Kinder sein. Nur auf Grund der Überzeugung, dass die Kinder Verbündete brauchen. Er muss sich dem Kinde verantwortlich fühlen, mehr als der Schulbehörde.

Jurek Becker (1937-1997). Schlaflose Tage.

(5 Minuten vorher, Gedächtnisprotokoll:) Vorwort
Ich weiß nicht genau, wie Sie darauf kommen – in den Reden vorher wurde es erwähnt – dass ich meine Reden spontan halte. Das tue ich nicht. Außer jetzt diesen Teil. Dazu müssen Sie wissen, dass ich heute morgen um 5 Uhr aufgewacht bin – an so einem Tag normal – mit Magenschmerzen. Und diese sind jetzt weg und ich kann eigentlich nur sagen, dass es mir jetzt wirklich gut geht, nachdem ich alle vorangegangenen Beiträge gehört und gesehen habe. Danke dafür.

(Eine Stunde vorher:) Motto
Eine Rede braucht ein Motto, das alles Gesagte irgendwie zusammenhält. Das hat man mir gestern auf Twitter gesagt als ich in die Twitterwelt hineinschrieb:

Es gab viele Antworten und einer meinte, es müsste ein Motto vorangestellt werden. Das fand ich eine gute Idee, denn ich habe das Gefühl, ich brauche auch etwas, was das ganze Folgende irgendwie zusammenhält.
Und da es mir erst heute morgen im Auto eingefallen ist, setze ich es hier an den Anfang.
Neulich auf Twitter las ich einen Tweet, in dem hieß es groß und fett: Lehrer dürfen nicht mehr einfach nur Wissensvermittler sein.
Und ich antwortete spontan: Lehrer waren noch niemals reine Wissensvermittler.

Ich hoffe, das hält jetzt.

Begrüßung
Ich habe mit meiner Mutter neulich telefoniert und obwohl ich ihre Antwort kannte, habe ich sie gefragt, ob sie nicht an dieser Feier teilnehmen möchte. Sie sagte „Nein“, was ich erwartete. Sie war aber nicht so gut drauf, dass sie die Geschichte erzählte, die sie mir seit Jahren, speziell zu Beginn eines Schuljahres oder an Weihnachten erzählt. Sie hätte diese ihnen auch erzählt. In dieser Geschichte komme ich nur am Rande vor, aber meine Mutter beginnt sie mit immer demselben Satz:
„Ich habe es ja immer so gehasst, auf dem Stuhl vor dem Gang zum Zimmer des Direktors zu sitzen…“
Sie können sich denken, wie der Satz weiter geht
„…wenn ich einen Termin hatte, weil DU wieder was angestellt hast.“
Ich will gar nicht darauf eingehen, dass dieser Satz so klingt, als ob das öfter passiert wäre. Etwas später erzähle ich diese Geschichte zuende.

Wenn meine Mutter und meine Tante am Tisch sitzen, so kenne ich es seitdem ich ein Kind bin, werden Geschichten erzählt. In der Regel drehen sie sich um den Krieg, die Zeit davor, die Flucht aus Schlesien, die Zeit danach, Kriegsgefangenschaft, Neubeginn, usw. Wenn Sie auf die Rückseite der Einladung schauen, sehen sie das Schulhaus, in dem mein Großvater 1924 lebte und unterrichtete. Es ist mittlerweile das einzige Haus des Dorfes, was noch bewohnt ist.
Was soll man noch sagen? Dass meine Großmutter die Tochter eines Konrektors aus Breslau und Enkelin eines Schulleiters war? Auf dem Foto auf der Einladungskarte sehen Sie beide.

Und jetzt denken Sie, ich bin der Spross eine langjährigen Dynastie von Lehrern und Schulleitern. Hm, das wäre zu einfach. Aber es erklärt diese beiden Bilder.

Bei meinen ersten öffentlichen Reden seit Februar 2018 ist mir immer derselbe Fehler unterlaufen. Ich habe einfach angefangen zu reden, ohne mich vorzustellen oder irgendjemanden zu begrüßen. Während der Rede fiel es mir dann ein und irgendwie hängte ich es dann dran oder auch nicht. Nicht fein, höchstens originell. Heute möchte ich alles richtig machen – und doch werde ich nicht jeden begrüßen oder erwähnen.

Ich danke jedenfalls Herrn S. dafür, dass er die Planung dieser Feier übernommen hat und z.B. Herrn F. dafür gewann, Musik und Technik für heute zu organisieren, zusammen mit dem Technik-Team der Schüler und Herrn R, der das Schulhaus hier von Anfang an zusammenhält. Hausmeister R, wie man hier an der JPR immer dazu sagen muss. Ich danke den Kollegen, dass sie die Unruhe im Haus gelassen hingenommen haben – Herrn M. von der FOS und seinen KollegInnen ebenso. Hoffentlich auch gelassen. Dank geht an Frau H von der Firma P, deren Arbeit sie im Anschluss bewundern können, wenn sie ans Büffet gehen.
Und bedanken muss ich mich bei den Vorrednern für die freundlichen Worte, die sie gefunden haben. Vielen Dank.

Jetzt gibt es wohl kein zurück mehr – jetzt bin ich Schulleiter. Ein schöner Satz. Ich erinnere mich an einen Kollegen, der meinte mal zu mir: Thomas, ich bin Schulleiter. Ich leite eine Schule mit Hunderten von Schülern, mit über 60 Kollegen. Ich bin der Chef. Und wenn ich nachmittags nach Hause gehe, dann steht da jemand, der sagt mir: Bring den Müll raus. Und dann bringe ich den Müll raus.

Jetzt das zweite Motto: Vor einigen Jahren kam es zu einem Gespräch zwischen einer Schülerin und mir, bei dem es darum ging, dass sie nicht auf die Abschlussfahrt fahren wollte – es ging nach Berlin und ich hatte ihnen davon sehr vorgeschwärmt. Dabei meinte sie am Ende, ich solle es nicht persönlich nehmen. Das hat mich damals verwundert und spontan antwortete ich: Ich glaube, dass das Problem an Schule ist: dass zu wenig Leute etwas persönlich nehmen.

Also, Grußworte – ich werde jetzt mal persönlich – und langsam bekommen sie wahrscheinlich Angst.

Unter ihnen sitzen viele Menschen, über deren Erscheinen ich mich besonders freue.

Es sitzt jemand da, mit der ich das Referendariat durchlebt habe. In deren Auto ich manchmal auf der A73 saß. Das Auto was ich ihr ein paar Jahre später abgekauft habe, als ich endlich meinen Führerschein gemacht habe. Und die erste Fahrt mit dem Auto ging an die Nordsee, die zweite nach Schweden. Hallo Birgit.

Es sitzen zwei Kolleginnen unter ihnen, mit denen ich vor genau zehn Jahren, meines Erachtens auf den Tag genau, in einer Jugendherberge beim Frühstück saß. Und es war damals der erste Tag, an dem ich nach 25 Jahren keine Zigarette rauchte. Damit bin ich seit diesem Tag Nichtraucher, seit zehn Jahren (über 91.000 nicht gerauchte Zigaretten). Hallo Anne und Kerstin – und mit euch der Stammtisch Alexandra, Michi, Steffi, Iris.

Es befindet sich ein Kollege unter ihnen, der vor 15 Jahren parallel zu mir eine 5. Klasse als Klassleiter führte. Und wir duellierten uns verbal oft vor den beiden Klassen, sehr zu ihrer Erheiterung, auch wenn sie der Meinung waren, dass wir uns wirklich hassten. Und eines Tages auf einem Sportfest ließen wir uns hinreißen vor den Augen der Schüler ein Wettrennen zu laufen. Ich meine, ich habe gewonnen, trotz einer Oberschenkelzerrung. Hallo Wolfram.

Und es gibt einige Schulleitungskollegen unter ihnen, mit denen ich in den letzten Wochen und Monaten mehrfach gesprochen habe und die mit mir den Zweifel teilen und die Unsicherheit in unserem Beruf als Schulleiter oder Schulleitungsmitglied. Es klingt konventionell, aber diese Gespräche sind sehr wertvoll im alltäglichen Chaos. Hallo Kurt, Ferdinand, Jürgen, Thorsten.

Ich würde auch gern diejenige begrüßen, die mir die Einladungskarte gebastelt hat – aber ihr Entbindungstermin ist in einer Woche und sie möchte kein Risiko eingehen. Dankeschön Carolin.

Und es gibt einen Kollegen, der leider nicht hier sitzt, weil er vor drei Jahren gestorben ist – und den ich ab und an vermisse, so wie andere Anwesende auch. Hallo Thomas.

Es mag für manche von Ihnen überraschend sein, aber es gibt unter ihnen viele – Lehrer wie Schüler und andere Menschen, die Spuren in meinem Leben hinterlassen haben. Ohne dass sie es darauf angelegt haben. Wie leicht geht das scheinbar.

Ich stelle Ihnen eine kurze Aufgabe, die ich immer wieder Referendaren und Praktikanten stelle, die ich betreue: (Ich lasse sie mal eine Minute damit allein)
Erinnern sie sich an die beste Unterrichtsstunde, die sie selbst als Schüler in der Schule erlebt haben. Berichten sie davon.

Ich weiß nicht, an welche Stunde Sie jetzt gedacht haben, aber ich nehme an, dass die wenigsten von Ihnen wirklich eine Stunde im Gedächtnis haben. Eine Stunde mit einem tollen Arbeitsblatt vielleicht? Oder eine Stunde mit einem wunderbarem Tafelbild, einer fantastischen Gruppenarbeit, Methodenwechseln…

Ich gehe eher davon aus, dass Sie sich an einen tollen Lehrer erinnern. Der Sie begeistert hat für irgendetwas. Einer, der außergewöhnliches Talent hatte eine Klasse zu motivieren. Irgendetwas in diese Richtung.

Mir fällt u.a. ein Lehrer ein, den ich nur in der zehnten Klasse ein halbes Jahr in Politik hatte. Er fiel vor allem dadurch auf, dass er am Stock ging und schneeweißes Haar hatte. Undefinierbares Alter. Ein kluger Kopf.
In einer der Stunden erzählte er uns, wie man ihn als Soldat gegen Ende des Weltkrieges zu einem Erschießungskommando eingeteilt hatte. Und wie er den Befehl verweigerte. Und dafür eingesperrt wurde mit der Androhung, selbst vor einem solchen Kommando zu enden.
Damals rettete ihn die Kapitulation 1945. Den Eindruck, den er auf uns damals machte, können Sie sich vorstellen.

Und wenn man weiter drüber nachdenkt, erhält die Erkenntnis von Hattie – nur um diesen Namen mal zu erwähnen – welche Rede kommt denn in letzter Zeit ohne ihn aus? -, dass der Lehrer zählt, eine andere Bedeutung.

Er meint wohl eher als Gestalter von Unterricht – ich meine aber eben auch als Persönlichkeit, als Vorbild, als Orientierung für die SchülerInnen. Und damit wird er, ob er will oder nicht, zu jemanden, der mehr vermittelt als nur Wissen. Und dessen soll er sich bewusst sein.

Denn wir dürfen nicht aus den Augen verlieren, dass wir als Lehrer immer auch als Persönlichkeit vor den Schülern stehen. Und dass wir diese Sache durchaus sehr persönlich nehmen müssen.
Denn ob wir wollen oder nicht – unsere Schüler sind keine Toten, die erst irgendwann zum Leben erweckt werden.

Sie haben schon ein Leben und wir gehören dazu und hinterlassen Spuren darin.

Und wir können bestimmen, welcher Art diese Spuren sein sollen.

Wenn man mich fragen würde, was ich von Schule erwarte, dann sicher eines: Dass Lehrer als Persönlichkeiten und Charaktere vor den Schülern stehen und ihnen die Möglichkeit geben, sich selbst zu Persönlichkeiten zu entwickeln. Persönlichkeiten, die die Mühe auf sich nehmen, sich eine eigene Meinung zu bilden und zu vertreten. Auch gegen Widerstand, auch wenn es unbequem ist.

Apropos unbequem.

Sie fragen sich am Ende vielleicht, wie die Geschichte von oben weitergeht, wenn meine Mutter sie erzählt.

Sie geht eigentlich so: „Ich habe es immer gehasst im Gang zum Zimmer des Direktors zu warten, wenn du mal wieder etwas angestellt hast. Aber einmal kam dein Klassenlehrer vorbei. Er setzte sich und sagte leise zu mir: Wenn Sie da rein gehen, denken sie daran: Wir müssen Thomas unbedingt den Rücken stärken.“

Auch er war ein Verbündeter.


6 Kommentare

    • tommdidomm

      Vielen Dank.

  1. Stefan

    Danke!
    Tolle Rede.
    So will ich Lehrer sein.
    Danke.

    • tommdidomm

      Danke auch.

  2. Trulla

    Eine gute Rede, die hoffen lässt. Gratuliere!

    Ich habe als Schülerin in den 50er und 60er Jahren echte, gute Lehrerpersönlichkeiten erlebt, aber auch das krasse Gegenteil davon.
    Und ein einziger dieser letztgenannten hat es geschafft, dass ich als Teenager seinetwegen diese Schule nicht mehr ertrug und wechselte. Zu meinem großen Glück! Und dank meiner Eltern, die meine Krankheitssymptome ernst nahmen.

    Als Erwachsene habe ich im Gespräch mit einer Mitschülerin (reine Mädchenklasse) erst erfahren, dass alle anderen sehr wohl gemerkt haben, dass der “Dr. Bio“ mich “auf dem Kieker“ hatte. Was mich im Nachhinein erstaunte und sogar irgendwie erleichterte. Hatte ich doch an mir selbst gezweifelt und konnte deshalb mein “Empfinden“ auch niemandem beschreiben, der mir hätte helfen können.
    Mal ganz abgesehen davon, dass an dieser höchst konservativen Schule ein sehr autoritäres System herrschte.
    Mein vages Gefühl, einer irrationalen Abneigung ausgeliefert zu sein, hat meine Leistung in seinem Fach unterirdisch werden lassen. Angst essen Seele auf!

    Und dabei gehörte ich vorher weder zu denen, die an Ausgrenzungen, welcher Art auch immer, litten, noch sich nichts trauten. Ganz im Gegenteil sogar und trotzdem…..

    Lehrer haben Macht, damit immer gut umzugehen ist eine große Verantwortung!

    • tommdidomm

      Vielen Dank und ja, ich stimme Ihnen zu. Und ich sage auch ganz offen: Ja, manchmal liegt es wirklich am Lehrer – da kommt man nicht drumrum. Und ja, manchmal fühlte ich mich in der Vergangenheit gezwungen SchülerInnen vor LehrerInnen zu schützen, möglichst so, dass jeder sein Gesicht wahren konnte.
      Und mir ist aber auch bewusst, dass ich mich zwar für einen „guten Lehrer“ halte, aber genau so wie jeder andere Schüler hatte, die mich ablehnen, denen ich durch Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, schlechter Laune heraus oder weil mein inneres Kind stärker war als mein erwachsenes Ich, vielleicht wehgetan habe oder denen ich nicht genug zuhörte.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert