Deutsches Tempo

„Wenn du Sonntag nachmittags in einem Park auf das grüne Gras gehst, obgleich eine Tafel mit dem deutschesten Wort davor steht: Verboten! – dann stellt dich bestimmt irgendein Aufseher, ein Schupomann, ein Kriminalbetriebsassistent, kurz: ein von dir bezahlter Beamter, und du glaubst gar nicht, wie schnell du dein Strafmandat in der Tasche hast. Vorladungsfristen, Zahlungsfristen – es geht bei der großen Menge ähnlich wichtiger Geschäfte ziemlich rasch.

Wenn aber ein strammer Deutschnationaler Waffen ansammelt und verbirgt, um dereinst glorreich gegen Frankreich zu ziehen (und die andern als Helden sterben zu lassen) – dann rührt sich nichts. Justitia, diese Göttin der Gerechtigkeit in der kaiserlich deutschen Republik, lehnt dann müde an der Wand, das Schwert hat sie in eine Ecke gelehnt, die Augenbinde auf die Stirn hinaufgeschoben, und die Waage, die schon immer ein bißchen nach rechts ausgeschlagen hatte, abgestellt. Sie schlummert. Ab und zu spricht sie aus dem Schlaf. Aber es hört keiner hin.

[…]

Wir sehen zu und denken: es wird schon werden – und stehen dabei, wie der Staatswagen gemütlich, in deutschem Tempo, immer hübsch langsam voran, dahinbummelt. Wir sollten dem Kutscher seine schwarz-weiß-rote Peitsche aus der Hand nehmen, den Wagenschlag öffnen und rufen: »Alles aussteigen –!« Und die Tafeln abreißen, auf denen zu lesen ist: »Rechts fahren!« – Und nicht dulden, dass wir eine Fahrt bezahlen, die, wenn sie so weitergeht, auf den Rieselfeldern enden wird.

 Ignaz Wrobel (Kurt Tucholsky), Welt am Montag, 07.08.1922.

5 Antworten auf „Deutsches Tempo“

  1. Ich hatte mal eine Freundin, die als Jugendliche von Kasachstan nach Deutschland kam.
    Als sie nach der langen Busfahrt vor irgendeinem Verteilungslager endlich aussteigen durfte, legte sie sich ins Gras.
    Sofort kam eine Frau auf sie zu und rief: „In Deutschland ist es verboten, im Gras zu liegen!“
    Das war ihr erster Eindruck von dem Land, in dem sie fortan leben sollte.

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