Tagebuchschreiben und Bloggen

Beim flüchtigen Blick auf den Feedreader hängengeblieben bei Buddenbohm und dem dort erwähnten Blog-Posting von Gaga Nielsenmit der Frage „Führt jemand von Euch ein ganz privates Tagebuch (parallel zum Tagebuch-Blog), das niemand sonst je sieht und liest, außer Euch selbst?

A

Man fühlt sich eingeladen, dazu zu denken und zu schreiben, auch wenn ich nur phasenweise ein Tagebuchblogger war/bin.

  1. Ja, ich schreibe beides parallel. Teilweise digital in eine App, seit gestern wieder (ich habe den Blogeintrag erst heute morgen gelesen) handschriftlich.
  2. Privates Tagebuch und Bloggen behandeln unterschiedliche Lebensbereiche in der Regel. Das Blog verstärkt Schulisches und Unterrichtliches, auch Privates, das Tagebuch Privates und Inneres, richtig innen, vollkommen chaotisch.
  3. Mein ältestes handschriftliches Tagebuch stammt von 1987, da war ich 16/17 Jahre alt. Die Serie reichen dann bis 2009 ca. Danach habe ich das Notieren und Schreiben aufgehört bis ich ans Bloggen kam, ab ca. 2010, intensiv ab 2012. Seit 2018 nutze ich wieder ein Tagebuch, zunächst digital seit 2018, seit Mai 2021 wieder handschriftlich, dann wieder digital, seit gestern handschriftlich.
  4. Das handschriftliche/private Tagebuchschreiben spielte dann immer eine wesentliche Rolle, wenn „das Leben“ mich überwältigt und ich abladen muss.

B

Vor ein paar Wochen kontaktierte mich ein Sachbearbeiter meiner Krankenkasse, der unter anderem darauf hinwies, dass ich zwei Risikozuschläge auf meiner privaten Krankenversicherung hätte, die man nach 30 Jahren überprüfen könnte. Ich stimmte zu. Dazu sollte ich von den behandelnden Ärzten Nachweise erbringen, dass die Grundlage für die Zuschläge nicht mehr vorhanden seien.

Der eine Arzt, den ich erreichte, lachte und meinte, ich würde ihn aus dem Ruhestand holen. Aber er kann mir gern was schreiben, wenn ich ihm noch mal gedanklich auf die Sprünge helfen könnte.

Also holte ich dieses Wochenende die Tagebücher von 1991/1992 heraus.

Ich fand den Datenrahmen, Diagnose und ungefähre Dauer der Behandlung.

Und machte den Fehler weiterzulesen.

C

Was ich noch fand, war ein chaotisches Durcheinander von Beschreibungen, Erlebnissen, Namen, bekannt und unbekannt, Orten, bekannt und unbekannt.

Schlimm: Vieles, was ich dort las, war in meiner Erinnerung und wenn ich heute davon erzähle würde, nacheinander passiert und in meinem Kopf eben linear logisch aufgebaut – aber im Spiegel meiner Tagebücher offenbar stellenweise parallel, durcheinander, mehrfach wiederkehrend. Menschen, die ich (von heute aus erinnert) zu dem Zeitpunkt schon gar nicht mehr relevant für mein Leben betrachtet habe, waren aber noch da und ich interagierte mit ihnen.

Am schlimmsten: Verhaltensweisen von damals erkenne ich heute noch bei mir. Und ganz seltsam (Ironiemodus): Sie ergeben noch dieselben Resultate – also sicher nicht schmeichelhaft.

D

Buddenbohm schreibt am Ende: „Ich schreibe mir mein Leben zurecht. Wie vermutlich alle, die schreiben.“

Das erinnerte mich wieder an Max Frisch und dem verbundenen Thema der Biografie und Identität in der Problematik einer erzählten und damit erfundenen Biografie und Identität.

Denn natürlich ist das Blog nur ein Teil meines Lebens, nicht mal ein großer würde ich sagen, aber er formt mein Bewusstsein von mir in dem, was ich auswähle zu schreiben – und das Bild, was sich andere von mir machen. Ebenso tut es mein Tagebuch, aber eben in anderen Teilen und nur im Zwiegespräch. Wo ich dabei „wirklich“ bin, kann wohl nur ich entscheiden.

Bei Max Frisch liest es sich so: „Jedermann erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“

E

„Schreiben heißt: sich selber lesen.“ Dies ist ein weiterer Schnipsel von Max Frisch. Und ich meine mich zu erinnern, dass es danach – dem Sinn nach – weitergeht, dass man oftmals böse überrascht wird von dem, was man dann liest. Dass man sich für einen guten Menschen hielt und doch nur ein Langeweiler war (muss mal nachschlagen…war das nicht, dass man sich für einen moralischen hält und dann doch nur „sauertöpfisch“ sei? Oder kommt der Begriff woanders her?)

Jedenfalls geht es mir mit dem Blick in meine Tagebücher so. Ich habe sie wieder verstaut und lasse sie erstmal so. Meine Erinnerung an die Zeit ist besser als das, was ich da gelesen habe. Vor allem für mich nachvollziehbarer.

F

Letzte Randnotiz. Neben den Tagebüchern habe ich auch das Manuskript meiner Abiturrede von 1989 gefunden und daneben einen Brief, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich nach dem einen Praktikum an meiner alten Schule (1992) nicht mehr in Betracht ziehen sollte, noch eins dort zu machen – aufgrund meiner Äußerungen über einzelne (von mir nicht namentlich genannte) Lehrkräfte in einem Interview durch die Schülerzeitung. Ein ehemaliger Lehrer, ein vertrauter, sagte mir damals am Rande, dass dieser Brief auch etwas damit zu tun habe, dass manche die Rede von 1989 noch nicht verkraftet hätten.

Beides gelesen aus zeitlichem Abstand und in meiner jetzigen Position als Schulleiter.

Nicht angenehm. Witzig ja, ein bisschen. Aber unangenehm.

Habe heute im Auto kurz überlegt, ob ich einen Brief an mein damaliges Ich schreiben sollte, aus heutiger Sicht.

Ich mache es nicht, weil ich Angst vor der Antwort habe.

G

Allerletztes. Ich habe gestern angefangen mit der Hand zu schreiben, weil ich phasenweise wieder überwältigt bin von dem ganzen Drumherum. Mit der Hand zu schreiben beruhigt mich und das Aneinanderreihen von Sätzen schafft eine innere Struktur, die vielleicht nur Schein ist, aber mich auch äußerlich zusammenhalten kann.

Nichts davon gehört ins Internet.

6 Antworten auf „Tagebuchschreiben und Bloggen“

    1. Ich werde mich anstrengen, dich zu enttäuschen. Das fängt schon mal damit an, dass alle deine Kommentare hier im Papierkorb landen und ich sie erst Wochen später finde.

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