Ich kenne zwei Juden

In dem kleinen Band „Antisemitismus in der Sprache“ beschreibt Ronen Steinke die Schwierigkeit für Menschen, einen andere Menschen als Juden zu bezeichnen – auch für Juden, die von anderen Juden sprechen. Und nicht erst hier fange ich an mir Gedanken zu machen, vor allem weil ich ein ansatzweise intaktes Geschichtsbewusstsein besitze.

Weil: Komisch, man sagt auch nicht „Der Katholik“ oder „Der hier ist Evangole“ – wie es gern nenne – wobei ich damit ja auch etwas anderes ausdrücken möchte.

Aber neulich lernte ich jemanden kennen, der sich selbst als „jüdisch“ bezeichnete. In meinem Leben und Erfahrungskreis war dieser junge Mensch, so dachte ich, der zweite Jude, den ich kennenlernte.

Als ob: Normal frage ich ja auch nicht jeden, oder er/sie Jude sei. Also wer weiß, wieviele Juden ich kenne.

Jedenfalls erwähnte ich, dass ich noch einen Juden kenne und mein Gegenüber wollte als erstes wissen: Ist er offen Jude?

Und diese Frage geistert seitdem in meinem Kopf herum. Weil ich sie in dieser Form eher kenne aus dem Bereich gleichgeschlechtlicher Partnerschaften („Lebt ihr eure Beziehung offen?“) oder eben allgemein im Bereich der Homosexualität oder des Queeren („Lebt er/sie offen homosexuell?“). Also im Bereich gesellschaftlich (noch) nicht (voll) anerkannter Lebensentwürfe.

Und nein, der erste Jude, den ich kennenlernte, lebt nicht offen jüdisch, wenngleich ich ihn nicht so einschätze, dass er säkularisiert ist oder sich schämt, sondern dass er sich schon sehr intensiv mit seinem Judentum auseinandersetzt.

Und nein, ich bin nicht (mehr so) naiv. Ich kenne u.a. die Berliner Synagoge in der Oranienstraße, vor der Polizei steht, besonders aktiv und präsent jeden Freitag.

Ich war sehr naiv, als ich vor 30 Jahren an meinem Geburtstagswochenende nach Wien fuhr, vor allem um das Wien von Thomas Bernhard und Sigmund Freud kennenzulernen. Dabei stieß ich auch auf die Wiener Synagoge mit Museum und wunderte mich, dass ich a) nur durch eine doppelte Panzerglas-Sicherheitsschleuse hineinkam und b) vor dem Betreten sehr intensiv befragt wurde, warum ich hier bin und was ich erfahren möchte. Ich wunderte mich sehr mit Anfang 20, bis der nette Herr hinter dem Panzerglas erwähnte, dass wir uns am Tag vor Jom Kippur befinden.

Ist er offen Jude – Nein, ist er nicht. Und er hat Gründe dafür – und das muss man sich bewusst machen.

Der andere junge Herr nimmt teil an einem Projekt, das ich sehr spannend finde: Meet a jew. Vorstellung des Projekts.

93.

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