17 Jahre Schulleiter: Öffentlich reden

Ort: Turnhalle, Realschule
Anlass: Abschlussfeier
Vorbereitungszeit: Eine Woche, 24h vor der Feier aufgeschrieben, 2 Stunden vor dem Halten geändert
Stil: recht frei gehalten, während der Rede Passagen wieder eingefügt, die schon draußen waren
Dauer: 10 Minuten

Hinweis: während des Vortrags sollten Bilder meine Rede unterstreichen (Power Point) Ich verwende hier andere Bilder wegen Urheberrecht und so, bzw. verlinke sie. Es ging einiges durcheinander. Ich war so aufgeregt, dass ich dauernd die falschen Knöpfe auf dem Presenter drückte. Daran muss ich noch arbeiten.

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Früher war ja eigentlich alles viel besser.
Das wissen wir alle.
Als ich so alt war wie ihr jetzt.
Fleißiger und so.

Wir hatten ja Ahnung vom Leben. Ihr bekommt ja alles geschenkt.
Wir hatten ja nichts.
Damals.

Sehr geehrte Schülerinnen und Schüler, sehr geehrte Eltern und Angehörige, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Gäste,

Ich provoziere. Natürlich.

Wie letztes Jahr möchte ich kurz, mehr als zehn Minuten habe ich ja auch heuer nicht, ein paar Erlebnisse aus meiner Schulleiterperspektive erwähnen, die für mich sehr prägend waren. Und die euch als Jahrgang von den anderen vorangegangenen unterscheidet. Ich sammle immer wieder Geschichten. Ich erzähle von einzelnen SchülerInnen und meine euch alle.

Vor einem halben Jahr bat ich einen Kollegen, dass er doch bitte ein paar Dinge, die noch in meinem Büro lagerten von dem Radioauftritt, den unsere Schule bei Star FM absolviert hatte, abholen sollte. Er nahm sich sechs Jungs aus der Klasse, die er grad unterrichtete und kam vorbei. Als diese in meinem Büro standen, schaute ich sie nacheinander an und merkte: Vor mir stehen drei Disziplinarausschüsse und drei sehr ernsthafte Gespräche in meinem Büro. Einer von ihnen war der erste Schüler, der zu mir geschickt wurde als ich an der N3 anfing. Dreien von ihnen hatten wir die Entlassung angedroht.

Sie alle hatten Regeln gebrochen. Und alle hatten die Konsequenzen dafür erlebt. Und alle reden noch mit mir. Und alle grüßen mich auf dem Gang.

Und Abdullah gibt mir manchmal eine Faust auf dem Gang.

Wichtig: Und alle sechs sitzen da unten und haben den Realschulabschluss geschafft.

Glückwunsch euch – und eurer Klassenleiterin und den Lehrern.

Mit diesem Foto begann dieses Jahr mein Sozialkundeunterricht.

Stammt aus der taz (tolle Reportage wieder mal):
https://taz.de/Aus-dem-Hambacher-Forst-in-den-Knast/!5536492/

Und eben diesem einen Foto, was damals sehr bekannt wurde. Eine junge Frau, die Bäume besetzt, die in einem Wald stehen, der abgeholzt werden soll. Sie wurde die Polizei aus einem Baumhaus geholt, das Baumhaus entfernt. Die Aktivisten im Hambacher Forst bekamen viel Zustimmung.

Und meine Schüler die Frage:

Darf man Regeln und Gesetze brechen?

Nein, denn Regeln und Gesetze sollen ja alles ordnen.

Wo kämen wir denn hin?

Und dann kam ich eines freitags in die Schule für die erste Stunde Sozialkunde. Es gibt einen Einstieg, den ich seit etwa 18 Jahren immer wieder durchführe und der dann je nach Diskussion oder Interessen der Schüler zu unterschiedlichen Stunden führt.

Ich frage die Schüler, warum sie eigentlich hier sind.

Man kann dann ganz super Grundrechte wiederholen.
Oder die Frage anstoßen, warum Kinder im Grundgesetz nicht auftauchen.
Oder mal ganz grundlegend über Freiheit sprechen.

An diesem Freitag konkretisierte ich es dann: Warum sie hier sind und nicht zum Demonstrieren in Nürnberg?

Stammt vom Greenpeace-Blog:
https://blog.greenpeace.de/artikel/fridays-for-future-schuelerinnenstudierendenstreik

Es gab die Vernünftigen – die ich bis dahin übrigens nicht als solche erlebt hatte: Nein, ich gehe nicht, es geht ja um den Abschluss und ich will gute Noten haben.

Es gab die Ignoranten: Nein, was soll ich denn da? Ist mir egal.

Es gab die Händler: Würden Sie mir einen Verweis geben, wenn ich gehe? Oder einen Diszi? Fliege ich von der Schule?

Und es gab welche, die gingen.

Zum ersten Mal seit 18 Jahren gingen welche.

Und ich bekam ein mulmiges Gefühl, denn sie sind aus dem Klassenzimmer raus, aus dem Schulgebäude raus, haben das Schulgelände verlassen – und waren weg.

Sie verließen den Unterricht des Schulleiters. Und gingen nach Nürnberg. Zu Friday’s for Future. Sie demonstrierten. Sie bastelten sich ein Transparent aus seinem Betttuch und zwei Holzlatten.

Natürlich war das ein kontrolliertes Experiment im Fach Sozialkunde.

http://www.hatch-mag.com/events/dont-try-home-friday-science-night/

Natürlich wurden sie bestraft von mir. Streng nach Schulordnung. Ich glaube, sie bekamen auch Ärger mit ihren Eltern. Bitte entschuldigen Sie liebe Eltern.

Und ich fand sie doch irgendwie toll.

Denn sie sind wirklich hingegangen, haben sich vorbereitet und ihre Meinung kundgetan.

Ihr Transparent haben sie mir mitgebracht und es steht seitdem in meinem Büro. Ich habe es hier bei mir.

Sie haben Regeln gebrochen und zum Allgemeinwohl beigetragen.

Sie haben gewaltfrei versucht, etwas Gutes in dieser Welt zu tun.

Ungeachtet der Motivation dieser drei Mädchen, habe ich zwei Lehren daraus gezogen, die ich formulieren möchte:

  • Es ist absolut wichtig, dass ihr Leuten wie mir, die glauben, dass sie 18 Jahre lang dieselbe Unterrichtsstunde halten können, den Finger zeigt
  • Es ist wichtig, dass ihr in Zukunft Regeln übertretet.

Die Frage lautet also nicht: Darf ich Regeln übertreten?

Sondern eher: Müssen nicht Regeln übertreten werden?

Denn wahrscheinlich muss sich etwas ändern, damit es gut wird.

Danke.

Mir wächst ein Mikrofon aus dem Gesicht.
Das Transparent.

PS: Nach der Rede kamen Eltern auf mich zu. Sie wollten ihr Betttuch zurückhaben. Ich habe Ihnen stattdessen zu Ihrer Tochter gratuliert.

Noch 17 Jahre Schulleiter: Karriere

20 Jahre Schuldienst, Karriereweg:

  • 1999 nach Bewerbungsgesprächen bei der Stadt Nürnberg abgelehnt worden
  • beim Staat Schüler unterrichtet
  • Geschwister von Schülern unterrichtet
  • mit ehemaligen Schülern angefreundet
  • Kinder von ehemaligen Schülern unterrichtet
  • von ehemaliger Schülerin Dreads gedreht bekommen
  • von ehemaliger Schülerin Dreads abgeschnitten bekommen (3 Jahre später)
  • von ehemaligen Schülern in der Sparkasse beraten worden
  • von ehemaligem Schüler Bücher verkauft bekommen
  • von Freundin (ehemalige Schülerin) zur Hochzeit eingeladen worden
  • ehemaligen Schüler angestellt als Lehrer
  • von ehemaligem Schüler Möbel bauen lassen
  • Beerdigung von ehemaligem Schüler besucht
  • von ehemaligem Schüler die neue Brille geputzt bekommen
  • Auf die Verabschiedungsfeier der von mir sehr geschätzten Schulleiterin der Nachbarschule eingeladen worden, die mir neben anderen vor 20 Jahren bei den Bewerbungsgesprächen bei der Stadt Nürnberg gegenüber saß

Heute war ein Schüler in meinem Büro, am Tag der Notenbekanntgabe der Abschlussprüfung. Er hat sich dafür bedankt, dass er noch einmal an meiner Schule freiwillig wiederholen durfte, weil er sich dadurch verbessern konnte und jetzt seine Ziele wirklich umsetzen kann.

Manche Tage haben gute Momente.

Das Buch der deutschen Schande

E. J. Gumbel hat im Verlag Neues Vaterland ein kleines Buch erscheinen lassen: ›Zwei Jahre Mord‹. Es ist die wichtigste Publikation der letzten drei Jahre.

E. J. Gumbel hat die politischen Mordtaten der Jahre 1918 bis 1920 kühl und sachlich gesammelt, alle, die von rechts und die von links, und er hat gleichzeitig ihre gerichtliche Aburteilung aufgezeichnet. /…/

Es wurden, systematisch, alle irgend erreichbaren Führer der Opposition hingemordet. Ach, und was verstanden diese Soldatengehirne nicht alles unter ›Opposition‹! Zu dumm und zu faul, etwas andres als Dienstvorschriften, Jagdhumoresken, die ›Tägliche Rundschau‹, ein Blatt ähnlichen Kalibers oder Zoten zu lesen, richteten sie sich in ihrem Haß gleichmäßig gegen Demokraten, Bolschewisten, Dada-Leute, moderne Maler und Nationalökonomen. Unverdächtig war, wer Schmisse auf den Gesichtsbacken und jenes vorschriftsmäßig deutsche Bullenbeißergesicht trug, in dem die richtige Mischung von Kellner und Assessor ganz realisiert war.

Ermordet wurden: Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Kurt Eisner, Leo Jogiches, Dorrenbach, Gustav Landauer, Alexander Futran, Bernhard Schottländer, Hans Paasche. Die Liste kann beliebig verlängert werden: dies sind die bekanntesten, die getötet wurden. Und wie getötet! Zerstampft, zu Tode geprügelt, von hinten erschossen, erschlagen, ins Wasser geworfen und mit ›Fangschüssen‹ erledigt!

Summa: 314. /…/

Verschwendet ist jede differenzierte Kritik an einer Rechtsprechung, die folgendes ausgesprochen hat:

Für 314 Morde von rechts 31 Jahre 3 Monate Freiheitsstrafe, sowie eine lebenslängliche Festungshaft.

Für 13 Morde von links 8 Todesurteile, 176 Jahre 10 Monate Freiheitsstrafe.

Das ist alles Mögliche. Justiz ist das nicht. /…/

Wir andern aber vergessen viel zu rasch. Wir konstatieren und gehen nach Hause. Jene dagegen wiederholen Tag um Tag und Tag um Tag, seit zwei Jahren: den Schwindel vom Dolchstoß, die Legende vom Scheidemann-Waffenstillstand, der doch eine Monarchenniederlage war, die historischen Unwahrheiten vom U-Boot-Krieg und die Lüge vom Erzberger-Frieden. Und sie drehen die Geschichte unermüdlich so lange, bis auch sie ihnen und ihrer Existenz recht gibt.

Ignaz Wrobel, 1921, Weltbühne

E. J. Gumbel (Spiegel, 2012)
E. J. Gumbel (Zeit, 2012)
Ausstellung Gumbel (2019)

Das muss man gesehen haben

Das muß man gesehen haben. Da muß man hineingetreten sein. Diese Schmach muß man drei Tage an sich haben vorüberziehen lassen: dieses Land, diese Mörder, diese Justiz. Der deutsche politische Mord der letzten vier Jahre ist schematisch und straff organisiert. Die Broschüre: ›Wie werde ich in acht Tagen ein perfekter nationaler Mörder?‹ sollte nicht auf sich warten lassen. Alles steht von vornherein fest: Anstiftung durch unbekannte Geldgeber, die Tat (stets von hinten), schludrige Untersuchung, faule Ausreden, ein paar Phrasen, jämmerliches Kneifertum, milde Strafen, Strafaufschub, Vergünstigungen – »Weitermachen!«

Kurt Tucholsky, 1922, Weltbühne

Brain-Dump-2019-06-02-Sonntag

Exotisch

Man fragte mich, was ich denn in München gemacht habe, da, am letzten Wochenende. Und ich habe es erklärt. Versucht zu erklären. Und dennoch blieb ein so komischer Rest, auch wenn es nur das Gesicht meines Gegenübers war, der versuchte zu verstehen, warum ich wegfahre, ein Hotel nehme, um an einer Feier teilzunehmen, wo ich quasi niemanden kenne.
Oder kennt man Menschen, die man im Internet kennenlernt, doch irgendwie?
Jedenfalls kam ich mir jedes Mal, wenn ich das erklärte, wie ein Exot vor.

Überholt

Manchmal gehe ich in den Unterricht, präsentiere den Schülern eine Idee, quasi, nicht mehr, und schaue, was daran sie interessiert, um es dann in den folgenden Stunden entsprechend aufzubereiten.
Diese Woche war es das Rezo-Video auf Youtube. Das kannten zwar einige in den Klassen, aber doch nicht die Mehrheit. Ich selbst hatte nur den Anfang gesehen.
Einstieg lief über einen Clip aus „quer“ vom Bayerischen Rundfunk. Danach dann die ersten 15 Minuten von Rezo.
Dann meine Frage: Was macht das Video so spannend und interessant für euch? Eine Stunde lang redet ein Typ mit blauen Haaren, in einer enormen Geschwindigkeit, benutzt zwischendrin so Phrasen, die mit „krass“ oder „lol“ beginnen.
Danach Gespräch, ausufernd, über die Themen, die er nennt, den Rang, den YouTube mittlerweile bei den Schülern einnimmt (hab ich selbst völlig unterschätzt) und die Rolle, die er normalerweise abgibt.
Und ja, es spricht sie an. Es trifft einen Nerv.
So ganz begreife ich es aber nicht.

Ausgeklinkt

Verfolge #readonmyfake auf Twitter. Vor einer Woche in München habe ich sie gesehen, getroffen wäre übertrieben. Und jemand sprach gut von ihr, an jenem Abend. Ich werde denjenigen fragen müssen, was er aktuell meint. Ich kenne das Blog, mehr nicht, gelesen habe ich nichts, nicht mein Stil. Daher keine Meinung, nur Kopfkratzen.
Es stürmt in Twitter. Ein Artikel im Spiegel, den ich sehr gut fand, weil über weiter Strecken unaufgeregt war. Mit der sonstigen Lebenswelt nichts zu tun.
Das mit dem Internet und dem Leben ist manchmal schon etwas schwierig.

Kopfkratzen

Angesichts all dessen die Frage danach, wie man selbst glaubt, im Internet dazustehen. Wie das Bild ist, was andere von einem haben, die den eigenen Quast, den ich hier so reinschreibe, lesen (müssen). Eine Frage, die ich mir seit dem Anfang nicht mehr so richtig gestellt habe.

Fugenvegetation

Ich gebe zu: Garten ist Ehefrau-Sache. Ich kann mir nicht mal die Namen der Pflanzen richtig merken. Für grobe Sachen darf ich mit, aber nur unter genauer Beobachtung und mit genauen Anweisungen.

Oh, ich sehe grad auf den Bildern, dass ich mal die Tomaten geizen muss.

Das Zeug wächst aus der Ritze zwischen Weg und Hochbeet.
Hmja, man sieht es.

Rosentag – Nachtrag

Ausgewildert.