Thema: Die Soziale Rolle und Rollenkonflikte
Der erste Teil des Sozialkundeunterrichts der zehnten Klasse ist dem soziologischen Teil des Faches gewidmet: Gruppe, Rolle, Norm, Werte. Ich mache den immer etwas ausführlicher, weil ich ihn selbst sehr spannend finde.
Heute ging es um die Soziale Rolle und Rollenkonflikte und ich mache seit Jahren denselben Einstieg, der in diesem Fall eine ganze Stunde tragen kann. Und er ist simpel: ich betrete das Klassenzimmer, setze mich zwischen die Schüler und schaue zu, was passiert – wenn nichts passiert.
Eine der heutigen Klassen reagierte deutlich und ich habe es selbst noch nie so lang durchgehalten. Danach dann klärendes Gespräch über das, was passierte.
Gut, ich betrete das Klassenzimmer, stelle meine Tasche ans Pult, lege meine Einstiegsfolie auf den Overhead (Artikel 1 des Bayerischen Erziehungs- und Unterrichtsgesetzes), lege die Arbeitsblätter aufs Pult, gehe dann in die Klasse und setze mich auf einen freien Platz.
Also, was passiert, wenn der Lehrer seine Rolle nicht annimmt?
- Erste Reaktionen: Lachen.
- Dann: Unsicherheit
- Erste Fragen: „Was sollen wir denn jetzt machen, Herr Kubiwahn?“
- Erste Vermutungen: „Der will uns wieder irgendwas zeigen.“
- Wieder Unsicherheit: „Voll psycho jetzt.“
Nach dieser Phase dachte ich heute daran, abzubrechen und zu beginnen. Aber ich wollte mal sehen, wie weit es gehen kann.
- Ein Schüler geht plötzlich nach vorn: „OK, dann mache ich den Lehrer. Er (Also ich!) will sicher, dass wir jetzt alles selbst machen. So gruppenmäßig, selbständig und so.“
- Das Unterrichtsgespräch beginnt, der Schüler lässt die Folie vorlesen und stellt Fragen dazu. Die Schüler machen mit.
- Dann stockt das Gespräch, die Schüler schielen zu mir. Nebengespräche beginnen.
- Schüler vorn: „Darf ich abfragen und Verweise geben?“
Ich drehe die Schraube weiter: Hole mein iPad heraus, spiele mit voller Lautstärke Angry Birds.
- Die Unsicherheit wächst wieder: Lachen.
- Ein Schüler: „Da vorn liegen doch die Arbeitsblätter. Die können wir doch machen.“
- Blätter werden ausgeteilt.
- Es wird laut vorgelesen, reihum
- Einer beschwert sich, dass mein iPad so laut ist
Ich breche dann ab. Beginne das Unterrichtsgespräch und schreibe die Ergebnisse an die Tafel.
- Klasse gerät erleichtert in Gespräche über das Erlebte.
Was konnte gelernt werden?
- Rollen sind in uns derart stark verankert, dass wir verunsichert werden, wenn ein Gegenüber seine Rolle ablehnt, eben „aus der Rolle fällt.“
- In einem solchen Fall haben wir verschiedene Arten zu reagieren. In diesem Fall: Imitieren der wirklichen Situation, um „die Realität“ wieder herzustellen.
- Das Nicht-Annehmen der Rolle kann aber auch bestraft werden – als Beispiel fanden wir den Lehrer, der „Kumpel“ sein will – Sanktion der Klasse: Disziplinlosigkeit
- Soziale Rollen vereinfachen das Miteinander, weil sie Sicherheit geben bezüglich des Verhaltens von anderen Personen. Man wird berechenbar.
- Soziale Rollen erschweren das Miteinander, wenn man sich nur auf das erwartete Rollenverhalten zurückzieht, ohne einen persönlichen Touch. Als Lehrer ist man dann nur Schulbeamter.
- Rollen sind Erwartungen der anderen oder der Gesellschaft – das Verhalten in der Rolle hat nur bedingt etwas mit der Person zu tun. Rollendistanz ist manchmal sehr hilfreich im Umgang miteinander.
Bei der Reflektion gebe ich auch zu, wie anstrengend das für mich ist. Weil ich eben nicht „Lehrer“ bin in diesen Minuten. Und weil es für mich in diesem Moment auch kein passendes Rollenmuster gibt – jedenfalls keines, was auch für die Schüler akzeptabel wäre. Weil es ungewohnt ist. Weil mir ab einem bestimmten Punkt auch einige Schüler leid tun, weil ich sie so verwirre.
Ich habe mich in dieser Stunde auch schon mal auf das Pult gestellt, um von dort aus weiter zu unterrichten. Oder während des Satzes das Klassenzimmer für 5 Minuten verlassen.
Was für Lernziele dahinter stecken?
- Dass wir immer Produkte unserer Gesellschaft sind – immer aber auch diese Gesellschaft mitformen können.
- Dass wir uns trotz der Rolle auch mal fragen sollen, was wir da überhaupt so machen.
- Dass unterschieden werden muss zwischen Persönlichkeit und Rolle (mir hilft diese Unterscheidung in der schulischen Arbeit enorm).
- Dass Regeln/Rollen innerhalb von Gruppen Sicherheit geben – dass sie aber eben auch veränderbar sind.
Heute ist mir im Gespräch auch eingefallen, komischerweise zum ersten Mal, dass die Unsicherheit, die die Schüler gespürt haben, vergleichbar ist mit der Situation der Menschen in den neuen Bundesländern nach dem Zusammenbruch der DDR, alternativ nach Ende des Krieges. Eine gesellschaftliche Situation, in der viele Rollen und viel gesellschaftliches Verhalten plötzlich obsolet werden. Wo eine ganze Bevölkerung plötzlich neue Muster entwickeln muss, bzw. von ihr erwartet wird, vorhandene („westliche“) Muster zu übernehmen.
Und somit kann man gut überleiten zu den anderen, mehr politischen Themen in der Sozialkunde.
Cool, das will ich auch machen. Wie passt das in den Matheunterricht einer 7. Klasse oder in Physik der Klassen 7 und 9? Irgendwelche Ideen?
Fach wechseln? 😉 Wird schwierig….
johannes, du kannst es ja mal in einer vertretungsstunde machen ;).
Aber nur, wenn ixch die Klasse gut kenne. Mal sehen.
Sagen wir mal so: Dann wirst du die Klasse kennenlernen ;). Es klappt übrigens nicht immer „so gut“ wie hier, wobei ich immer nur wenig Erwartungen mitnehme und mich da eher überraschen lasse.In einer anderen Klasse bin ich nur reingegangen, habe den Stoff an die Tafel geschrieben und bin dann wieder weggegangen. Als ich nach zehn Minuten wiederkam, saßen doch immerhin 75% da und haben von der Tafel abgeschrieben. Aber es hat keiner das Klassenzimmer verlassen.
Ich gehöre zur erweiterten Schulleitung, da habe ich einen gewissen Bonus, dass sie sich ncht alles trauen. Außerdem hat man sich ja mühsam einen gewissen Ruf erworben, nicht alles mit sich machen zu lassen…
Das hilft ungemein :).
[…] Es läuft nicht rund. Das ist es einfach. Und das macht mir zu schaffen. Selbst, wenn ich klug darüber im Unterricht reden kann. […]