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2023.03.09

Lang geschlafen, kurz vor dem Wecker wachgeworden, Blutdrucktablette, Ibu, Tag kann kommen. Irgendwie schaffe ich das.

Seit ein paar Tagen verfolgt mich wieder mal ein Gedanke. Hat was mit Geschichte und meiner Schule zu tun.

Nach letzten Zählungen von Anfang der Woche weist meine Schule einen Migrationsanteil von rund 70% auf. Laut offizieller Statistik liegt der Migrationsanteil an der Gesamtbevölkerung in Bayern bei 20%.

Ich habe neulich am Rande des Sozialkundeunterrichts mit einer Schülerin gesprochen, deren Eltern aus Äthiopien stammen. Ich wollte von ihr wissen, was ihre Eltern im Schwerpunkt erzählen, wenn sie von ihrer „Geschichte“ erzählen. Ihre Antworten waren sehr spannend. Während in meiner Familiengeschichte der zweite Weltkrieg mit Verwandten, die verschollen sind oder in Gefangenschaft oder auf der Flucht waren, im Mittelpunkt aller Erzählungen stehen, sind es in ihrer Familie der Abessinienkrieg gegen Italien mit allen Folgen daraus – u.a. der Besetzung des Landes und seine Befreiung im 2. Weltkrieg. Sie sprach immer von „dem Mann“ und ich konnte mir denken, dass sie von Haile Selassie sprach (als ob ich mehr von äthiopischer Geschichte weiß als das). Weiterhin thematisieren die Eltern in Bezug auf ihren Urgroßvater auch das Verhältnis von Äthiopien zu Eritrea.

Ich fand das spannend, weil ich im ersten Jahr an der Schule schon einmal ein solches Gespräch führte, dann aber mit einem Schüler, dessen Eltern aus der Türkei stammten. Und auch damals die Frage: Was hat dein Vater in der Schule in der Türkei über die Zeitphase des ersten/zweiten Weltkriegs gelernt?

Worauf ich hinaus will, ist klar: Darauf, dass mein Lehrplan eine eurozentrierte Sicht der Geschichte beinhaltet oder noch enger eine deutsche Sicht. Dass ich aber Kinder vor mir habe, die in ihren Familien eine andere Geschichte hören und damit auch ein anderes Geschichtsbewusstsein besitzen – welches in der Schule mit der euro-deutschen Sicht konfrontiert wird. Mein Lehrplan beinhaltet aber nicht die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Ausformungen des Geschichtsbewusstseins.

Ich frage mich, ob es hier Forschungen gibt, die das thematisieren, also die Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins im Brennpunkt verschiedener Perspektiven – und der Frage, ob sich Geschichtslehrpläne nicht doch deutlich ändern müssten. Ich frage mich, wie spannend es sein kann, an meiner Schule eine Box einzurichten, in der Kinder die „Geschichte“ erzählen, die in ihren Familien eine große Rolle spielen.

Es ist Abend, bin weiter müde und kaputt.

6 Kommentare

  1. Spannend, und gute Idee.

    (Pass auf dich auf; lass auf dich aufpassen.)

    • tommdidomm

      Danke, ich bemühe mich.

  2. Ich finde das ein sehr spannendes Thema!

    Während meiner Austauschmonate in Australien belegte ich dort an der Schule auch Geschichte, was weitestgehend weiß-australisch-britisch dominiert war, ist ja logisch. Aber weil in der Klasse zwei Aborigines und etliche asiatische Einwanderer waren, versuchte der Lehrer, deren andere Perspektiven mit einzubringen. Es war sehr offen, eher einladend, niemals so, dass ein Kind als „pars pro toto“ für eine Kultur oder ein Land herhalten musste.
    Aber ich erinnere mich, dass dadurch alle Schüler lernten, nicht so schnell zu urteilen, sondern erst einmal zuzuhören. Als es um den Zweiten Weltkrieg ging, war da zB ein japanischer Schüler, der erzählte, wie in seiner Familie die Atombombenabwürfe thematisiert wurden. Und plötzlich war die Stimmung ganz anders, als wenn nur lauter europäischstämmige Australier (einem Land, das von Japan angegriffen worden war) die Heldengeschichte von der Verteidigung im Zweiten Weltkrieg besprechen.

    Vielleicht ist das in typischen Einwanderernationen aber auch leichter. Noch dazu, wenn man selbst gar nicht allzu viel Geschichte hat.

    Und kleinere Länder scheinen sich leichter damit zu tun, die Geschichte der größeren Nachbarländer mit einzubinden.
    In Österreich wissen die Leute viel mehr über deutsche Geschichte als umgekehrt. (Obwohl die österreichische Geschichte genauso interessant und turbulent ist: https://andreas-moser.blog/2018/08/23/erste-republik/ )

    Selbst unser Eurozentrismus bei der Betrachtung der Geschichte Europas ist ja hauptsächlich ein Großmächtezentrismus: Deutschland, Frankreich, Großbritannien, vielleicht noch Russland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Ich kann mich nicht erinnern, jemals etwas über Irland oder Albanien oder Litauen gelernt zu haben.

    Dabei könnte man durch den Rückgriff auf andere Staaten und Kontinente erst richtig die Verbindungen, die Parallelen, die Aus- und Wechselwirkungen darstellen, was hoffentlich für alle Schülerinnen und Schüler interessant wäre. (Zum Beispiel der Abessinienkrieg als „Erprobungsfeld“ für Luftkrieg, ähnlich dem Spanischen Bürgerkrieg. Oder der vergebliche Versuch Äthiopiens, ein ähnliches Tribunal wie in Nürnberg oder Tokio zu bekommen. Parallelen zwischen verzögerter italienischer und deutscher Aufarbeitung von eigenen Angriffskriegen und Kriegsverbrechen. Und so weiter.)

    So viele Themen und Ideen, so wenig Zeit. :/

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