Die Einsamen – Håkan Nesser

Im August um diese Zeit suche ich im Urlaub normalerweise überall die Buchhandlungen auf, um den neuen Nesser zu finden. Diesmal war Amazon mein Freund und ich habe zuhause auf dem Sofa gelegen, vier Tage jedenfalls hauptsächlich, um „Die Einsamen“ zu lesen.

Dies nun der vierte Band mit dem Halbitaliener Barbarotti als Kommissar, der, ganz in Tradition schwedischer Krimis, selbst eine große eigene Rolle im Krimi einnimmt. Wie in den Bänden vorher spielt das Ermitteln, das Kriminale, das Detektivische eine seltsam beigeordnete Rolle. Beim ersten Auftritt von Barbarotti taucht dieser ja erst im hinteren Teil des Buches überhaupt auf und scheint dann den Fall beiläufig, eher durch Zufall zu lösen. Ebenso ist er hier nicht der klassische Ermittler, besteht seine Arbeit doch darin, alte Akten zu durchforsten und nachzuspüren, was dreißig Jahre vor ihm ein mittlerweile verstorbener Ermittler gesammelt hat.

Ein über 60jähriger Dozent für Mathematik fällt im Wald einen Abhang hinunter und stirbt. Ein Unfall oder Selbstmord? Die Ermittlungen beginnen dann interessant zu werden, als sich heraus stellt, dass dreißig Jahre vorher eine Frau an derselben Stelle, unter denselben ungeklärten Umständen gestorben ist. Darüber hinaus ist recht schnell klar, dass dies Frau die damalige Lebensgefährtin des Dozenten war. Die weiteren Ermittlungen laufen schleppend und sind oft kurz davor eingestellt zu werden. Alles konzentriert sich um eine Freundesclique von drei Pärchen, die sich Anfang der 70er gefunden hatte und die sich Mitte der 70er aus den Augen verlor, nachdem eine von ihnen an besagter Stelle im Wald umkam.

Der Stoff ist kein klassischer „Whodunit“-Fall, aber das waren die Romane von Nesser ja fast nie. Vielmehr entwickelt sich die Spannung aus den Figuren und ihre Handlungszwänge und inneren Konflikte einerseits und andererseits aus der Konstruktion der Erzählstränge. Somit vermag es Nesser, dass der Leser sich wechselnd schlauer fühlen kann als der Ermittler, manchmal genauso im Dunklen tappt wie dieser und sich schließlich auch von ihm helfen lassen muss. Die Erzählfolge ist hier sehr stark zergliedert und die Handlungen im einzelnen konstruiert, aber dennoch nicht so, dass es unglaubwürdig würde. Es wird parallel erzählt, in Rückblenden und jeweils aus verschiedenen Perspektiven. Grad dies scheint Nesser perfektionieren zu wollen und daraus entwickelt sich natürlich die Spannung des Falls. Letztlich aber erhält die Geschichte bis zum Ende hin immer wieder neue Wendungen oder neue Vertiefungen, so dass die eigentümliche Spannung bis zum Ende hält, weil man in seinen eigenen Erwartungen zwar bestätigt, aber nicht immer zufrieden gestellt wird.

Dass die Barbarotti-Figur hier einen stärkeren transzendentalen Anstrich bekommt, empfinde ich jedoch eher als störend. Sein Pakt mit Gott war in den ersten Bänden witzig, nun sollte dieser anscheinend mit Tiefgang gefüllt werden. Die daraus resultierende Botschaft wird schnell kapiert, dann aber wiederholt dargelegt, ohne dass wirklich etwas Neues hinzukommt. Einige Seiten habe ich hier nur gescannt, ohne wirklich zu lesen.

Unterm Strich aber schöne vier Ferientage, im Garten, auf dem Sofa, im Freibad – mit einem schönen Krimi.

 

Hier gibts eine Leseprobe bei krimi-couch.de, gelesen von Dietmar Bär.

 

Bild/Cover von randomhouse

Deutsch – schnell gemacht 4: Rezension und Rezession

Habe grad den „Bahnwärter Thiel“ in der Mangel. Schnelldurchlauf am Ende des Schuljahres – dennoch finde ich die Novelle nach wie vor ziemlich toll.

Oft wusste ich früher nicht, wie ich am Ende der Besprechung zu einem Ende finden konnte. Ab diesem Jahr habe ich zumindestens eine Idee, die mir ganz gut taugt, und zwar die Arbeit mit Rezensionen aus dem Netz – am einfachsten über Amazon.de.

Angefangen hat das bei der Novelle „Zweier ohne“, die ich in der 10. besprochen habe.  Hier wählte ich als Einstieg – die Schüler hatten die Lektüre schon ganz daheim gelesen – drei verschiedene Rezensionen, deren Inhalt erarbeitet werden sollte. Entschieden hatte ich mich für die Rezensionen zu Zweier ohne mit folgenden Usernamen:

  • Gunnar Endruschat „Bücherwurm“: Eines der schlechtesten Dinge, die je lesen musste
  • Frank Cihak: Beeindruckend
  • TomTom: Eine realitätsnahe Jugendfreundschaft, die fragwürdig wird

Ausgewählt habe ich sie, weil man recht typisch daran die verbreitete Art Rezensionen zu schreiben erkennen kann, bei denen diffuse Vorstellungen und Eigenempfindungen die Bewertung bestimmen.  Aber es lässt sich auch etwas tiefer gehen, denn Cihak und TomTom z.B. nennen beide ähnliche Beobachtungen am Text, gewichten sie aber für ihre Meinung unterschiedlich. Es scheint auch, dass der eine auf den anderen eingegangen ist.

In jedem Fall war es den Schülern nun auch möglich anhand der Rezensionen ihre eigenen Merkmale guter (auch kritischer) Kommentare zu entwickeln und sich eine Meinung zu bilden.

Als Empfehlung gebe ich übrigens mit auf den Weg, dass man sich bei besonders auffälligen Rezensionen mal anschauen sollte, welche Bücher vom selben User noch „behandelt“ werden. Das ist oftmals sehr aufschlussreich.

In einem kleinen Arbeitsheft zum Bahnwärter Thiel aus dem Schroedel Verlag fand ich „meine Idee“ nun wieder. Wieder Amazon. Wieder Rezensionen. Ich habe jetzt drei ausgewählt, die unterschiedlich ausgewogen und vertieft an die Sache herangehen. Aufgabe für die Schüler soll nun sein, selbst eine gelungene Rezension zum Bahnwärter Thiel zu schreiben. Logisch.

Ausgewählt wurden:

  • Julia Tkocz: Einer Waschmaschine zu zuschauen ist interessanter, (1 Stern)
  • D. Filip: Rezension (3 Sterne)
  • Fiona: Rang von Weltliteratur (5 Sterne)

Hier zeigt sich in unterschiedlicher Abstufung, wie an eine Meinungsäußerung herangegangen wird, bzw. auch, was eine vertiefte Auseinandersetzung  mit dem rezensierten Gegenstand bringen kann.

PS: Man sollte diese Sache auf jeden Fall im Unterricht mal machen, um diesen unsäglichen Fehler auszurotten, der immer von einer „Rezession“ spricht.

Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin

Über dieses Buch zu schreiben, nachdem ich vorhin die Ergebnisse meiner Osterwochenendrecherche dargestellt habe, erscheint natürlich. Denn dieses Buch habe ich an diesem Wochenende ebenfalls inhaliert.

Schon vor einigen Monaten habe ich darüber etwas gehört, vor allem konnte ich eine Leseprobe in die Finger bekommen, die ich laut glucksend ein paar Mal gelesen und an viele Kollegen per Email versendet hatte.

Wie es wirklich war

Im Anfang schuf Gott erst mal gar nichts. «Dafür ist auch morgen noch Zeit››, sprach er und strich sich zufrieden über den Bart.

Am zweiten Tag sprach Gott: „Ach, es sind ja noch fünf Tage übrig“, und sank wieder in die Kissen.

Am dritten Tag wollte Gott schon anfangen, das Licht von der Finsternis zu scheiden, aber kaum hatte er sich auch nur einen Kaffee gekocht, war der Tag irgendwie schon vorbei.

Am vierten Tag dachte Gott ernsthaft darüber nach, jemand anderen die ganze mühsame Schöpfungsarbeit machen zu lassen. Aber es war ja noch niemand da.

Am fünften Tag hatte Gott andere Dinge zu erledigen, die viel dringender waren.

Am sechsten Tag überlegte Gott, ob es wohl möglich war sich irgendwie aus der Affäre zu ziehen. Es fiel ihm aber nichts Rechtes ein. Schließlich war er allmächtig, was die meisten Ausreden ein bisschen unglaubhaft wirken lässt.

Am Sonntag um fünf vor zwölf schließlich schluderte Gott hastig irgendwas hin : Wasser, Erde, Tag, Nacht, Tiere, Zeugs. Dann betrachtete er sein Werk und sah, dass es solala war. „Aber für nur fünf Minuten „, sagte er, „gar nicht so schlecht ! „

Ich hatte keine konkreten Erwartungen an die Lektüre. Vielleicht so eine Art ironischen Ratgeber – nach dem Motto: Macht genau das Gegenteil von dem, was wir hier schreiben, dann geht’s euch besser.

Insgesamt aber ist es ein breiter Überblick über die Prokrastinationsforschung und ihre wesentlichen Ergebnisse. Nein, keine Angst, kein Sachbuch. Es ist insgesamt eine witzige Mischung aus persönlichen Berichten, kurze Darstellung von Forschungsergebnissen und Top 3-10 Listen, was man beherzigen kann oder, in dem Zusammenhang des Buches, eher lassen soll.

Logischerweise fühlte ich mich in vielen Kapiteln ertappt, z.B.

  • Das Später-Prinzip
  • Heute jedoch nicht
  • Schön, schlank und fit in 30000 Tagen
  • Nur ein Vierteljährchen

Fast denke ich, man könnte ein Lehrerbuch draus machen. Vor allem bei der Beschreibung von Deadlines / dem Einhalten von Terminen. Schulaufgaben habe ich ja nun auch nicht zum ersten Mal an einem Wochenende korrigiert – und ich meine nicht das erste Wochenende nach dem Schreibtermin.

Natürlich ist das Buch gespickt mit Hinweisen auf Biografien von Prokrastinatoren, die erfolgreich waren. Aber mir vermittelte vor allem die Darstellung aller Ausreden, Verhaltensweisen und Aufschiebearten ein gutes Gefühl. Ein wahnsinnig gutes Gefühl. Das unübertroffene Gefühl, dass ich nicht allein bin. Aber noch viel wichtiger der Gedanke, dass der ewige Kampf gegen den Schweinehund ein Kampf auch gegen gesellschaftliche Normen (Arbeitsethos etc.) ist und damit ohnehin unheimlich ermüdend – also: für was? Um sich noch schlechter zu fühlen?

Auch spannend fand ich den Perspektivenwechsel dahingehend, dass Prokrastination ja nicht einfach mit Faulheit zu verwechseln ist, sondern eher eine Lust- oder Motivationsverschiebung. Wie könnte man sich sonst diese vielen Blogeinträge erklären, die dauernd entstehen? Vor allem von Leuten, die NICHT dafür bezahlt werden, sondern für ganz etwas anderes.

Aber ich will nicht zu analytisch und sozialkritisch sein, denn dies würde dem Buch nicht gut tun. Es ist kein Ratgeber , kein wissenschaftliche Grundsatzarbeit. Vielmehr eine augenzwinkernde Beschreibung von Verhaltensweisen, die im Grund bei uns allen vorhanden sind, allerdings mit unterschiedlicher Ausprägung.

Ich habe mich jedenfalls köstlich amüsiert. Unangenehm wurde es nur, als die handelsübliche Ratgeberliteratur besprochen wurde: also das ganze Simplify your life, Bekämpfen sie den Schweinehund und Getting Things Done. Denn die standen in meinem Regal, bis gestern.

Jetzt müsste ich eigentlich noch zwei Schulaufgaben korrigieren. Und dann den Papiermüll sondieren. Und einkaufen.

Naja, erstmal den Schreibtisch aufräumen.

Endlich Ferien…(mal wieder lesen…)

Eigentlich sollte der erste Ferien-Eintrag folgendermaßen beginnen:

Ich hab dieses Mal nicht aufgepasst vor den Ferien. Ist was schief gelaufen. Überschrift: Schöne Ferien.

Legende (von oben nach unten): schriftlicher Test 10. Klasse Sozialkunde, 5 Hefte Projektschulaufgabe Deutsch 8 (von insgesamt 31), Schulaufgabe 10. Klasse (letzte vor der Abschlussprüfung).

ABER.

Heute erster Ferientag. Sonne. Tierarzt. Einkaufen. Und dann in den Garten flacken (süddeutsch für: flegeln) und die junge Katze zum ersten Mal draußen laufen lassen.

 

Marie in der letzten Woche: nach der Kastration, auf dem Schreibtisch meiner Frau.
Marie heute im Garten

Und dabei habe ich gesessen und gelegen und gelesen. Endlich das Buch vom Nachttisch, welches dort seit Wochen herum liegt: Tschick. Von Wolfgang Herrndorf.

Wunderbar. Konnte nach Wochen, wo ich mich müde von Seite zu Seite gequält habe (bis Seite 20), endlich entspannt alles in einem Rutsch lesen. Hatte es ja schon bei Herrn Rau entdeckt und ohne dies zu wissen, brachte meine Frau es dann nach Hause. Und ich legte es heute nicht aus der Hand.

Und es hat meinen ersten Ferientag bereichert. Auch wenn die Wirkung des Gelesenen irgendwie seltsam ist, denn nach der Lektüre dachte ich mir: „Wow, hast du je so einen Sommer gehabt?“ Besser können die Ferien nicht beginnen….

Ja, natürlich klassenlektüretauglich. Aber vor allem eine wahnsinnig gute Geschichte. Und daher tauglich. Ganz einfach so.

Wenn man von Identitätsbildung u.ä. im Literaturunterricht sprechen möchte, hat man hier das Paradebeispiel des Coming-Of- Age. Und auch hat man gleichzeitig beim Lesen einen Film im Kopf, beständig.

Ich warte auf das Taschenbuch, weil ich meine Lektüren schon durch habe. Aber das Buch bietet einiges an, was zu entdecken wäre.

Abweichend von dem auch von Herrn Rau abgelehnten Zu Tode analysieren wäre auf jeden Fall der Bezug zu ähnlichen Filmerzählhandlungen notwendig. Ich mache mit meinen Klassen zum Thema Filmanalyse gern „Im Juli“ von Fatih Akin. Hier lassen sich in den ersten Minuten des Films alle Grundbegriffe erarbeiten. Desgleichen liegt hier eine Version eines Road-Movies vor. Weiterhin lassen sich in der Erzählhaltung des Films Parallelen zum Buch finden, da hier auch im Rückblick erzählt wird.

Weiterhin wäre ein Vergleich möglich mit zwei anderen Buddy-Figuren, die in Form eines Krimis Einzug in meinen Unterricht gehalten haben

Werde ich jemals einen solchen Sommer haben?

 

Eine erwachsene, fortführende Version übrigens: Bundesautobahn von Johannes W. Betz.

 

Ein Glas Blut – Selim Özdogan

„Ein Glas Blut“ ist eine Textsammlung von Selim Özdogan. Wikipedia sagt zu ihm, was meine Schüler etwas ins Stottern brachte, dass er ein „in der Türkei geborener deutscher Schriftsteller“ sei.

Überleg mal, sagt er, wer vor die schon alles auf diesen Sitzen gesessen hat. Wer da alles schon ins Polster gefurzt hat, auf welcher Wiese voller Hundescheiße die vorher schon gesessen haben, wie viel klebrige Zuckergetränke die verschüttet haben oder Milch, die eingesogen und dann schlecht geworden ist. Wo die ihre Finger gehabt haben, in der Nase oder an ihrem Arsch oder sogar an dem von jemand anderem, und danach haben sie sich nicht die Hände gewaschen. Und nach dem Pinkeln auch nicht. (Aus: Zu Hause bleiben)

In dieser Sammlung findet man unterschiedlichste Texte, auch Gedichte, die auf sehr intelligente Weise Erlebnisse eines „Twenty-or-Thirty-Something“ behandeln. Sie drehen sich immer wieder um die Liebe und ihre Gefahren und Enttäuschungen, aber auch um alltäglich Beobachtungen an der Bushaltestelle oder in der Bahn oder alles zusammen eben: um das einfache Leben mit Nudeln und einem Film.

httpv://www.youtube.com/watch?v=EgszUIcStwQ

Auf jeden Fall einen ganzen Haufen kleiner Perlen. Habe lange Zeit nach so etwas gesucht. Etwas, das ich gern lese und noch mal lese und was ich an Schüler weitergeben kann, weil es nicht ganz so den (wenn auch angenehmen) Muff von Böll und Borchert hat.

Und nein, nicht multikulti – sondern eben ein in der Türkei geborener deutscher Schriftsteller.

Bild von amazon.de