Heinrich Heine, Leder, Kälte

Seit einigen Tagen geistert mir eine Textstelle im Kopf herum und ich kann drei Begriffe bei Google eingeben und finde sie auf Anhieb:

Der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will. /…/ die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschenverbrüderung, gegen jenen Kosmopolitismus, dem unsere großen Geister Lessing, Herder Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.

Heinrich Heine. Die romantische Schule. 1836. Kapitel 3.

Oskar Maria Graf. Dorfbanditen. Erlebnisse aus meinen Schul- und Lehrlingsjahren

9783869060118Das absolute Gegenstück zu den bekannteren „Lausbubengeschichten“ von Ludwig Thoma stellen die Erzählungen aus Dorfbanditen von Oskar Maria Graf dar. Nicht nur erkennbar an den immer wieder eingestreuten Dialekt-Passagen in den Dialogen der beteiligten Figuren, sondern ganz grundlegend – geht es doch nicht um beschauliche und gemütvolle Ereignisse mit bayerischer Note. Vielmehr erhält man Einblick in das Kinderleben um und nach 1900, welches sicherlich nicht nur im dörflichen Bayern so wenig romantisch gewesen sein dürfte. Hier besorgen sich die Kinder Gewehre, gehen wildern oder schießen zur Abwechslung auf den Spitz der Nachbarn, um besser an das Obst in dessen Garten heranzukommen.

Das, was mich immer wieder Graf lesen lässt, ist vor allem der -fast ernste – Humor, der niemals schenkelklopfend-musikantenstadlig um die Ecke kommt, der so vielleicht nur in Bayern möglich ist. Und er zeigt damit einen Blick auf Bayern, der so wohl auch nur von innen möglich ist, aber alles erklären kann, was von außen als Schimpf darauf gerichtet ist.

Die Erzählung „Der Gottesraub“ beginnt z.B.

Die Leute bei uns daheim und im ganzen Land von Oberbayern sind katholisch. Dieser Glaube ist, wie der alte Schmalzerhans immer gesagt hat, kamot (kommod) und darum wird er sich auch ewig halten. Er verlangt keinen besonderen Aufwand, tut keinem weh und jeder Mensch ist ihn gewohnt. Bigotte Männer und Betschwestern hat man aber bei uns nie mögen, weil das meistens falsche, kriecherische und scheinheilige Personen waren, die im Familien- und Berufsleben keinen Schuß Pulver wert gewesen sind. Dieses ist auch von jeher die Meinung von unserem Vater selig gewesen, und wenn man auf solche Sachen zu reden gekommen ist, hat er immer gemeint, bei einem Glauben kommt es ganz allein auf den Pfarrer an, ein schlechter Geistlicher und ein schlechter Wirt sind vollends gleich: Wenn sie die Leute nicht verstehen und nicht mit ihnen umgehen können, kommt kein Mensch gern zu ihnen, und die wo alsdann wirklich in die Kirche und in die Wirtschaft gehen, tun es aus Falschheit oder sie sind aufsässig.

Und so kommt es dann auch, dass sein Bruder vom Pfarrer angegangen wird, weil er immer zu spät in die Kirche kommt – als Sohn des Bäckers muss er morgens bei Wind und Wetter die Brote und Brötchen in die Nachbarorte bringen – bis sich der Hilflose eines Tages vor versammelter Gemeinde wehrt und es aus ihm herausbricht.

Ja Herrgott, i konn mi doch it derrenna!… We-e-enscht du mi grod schikanieren und schlogn wuist, nachha konnst mi aa am Orsch lecka!“

Die Erzählung „Der Gottesraub“ stellt dar, wie den Jungen der Glaube ausgetrieben wird.

Der Allitera-Verlag gibt frühe Ausgaben Grafs neu heraus. Ebenfalls das Jahrbuch der Oskar-Maria-Graf-Gesellschaft.

Die Ausgaben sind direkt beim Verlag erhältlich/bestellbar.

PS: Gibt es in anderen Bundesländern ähnliche Autoren? Mir fiel nur noch Ernst Reuter ein.

Karl-Markus Gauß: Zu früh, zu spät. 2 Jahre.

zu_frueh_zu_spaet-9783423346030Vor Weihnachten meiner Mutter erklärt, wie die Amazon-Wunschliste funktioniert. Nachdem sie diese studiert hat, bekam ich ein Buch geschenkt, dessen Titel mir nicht viel sagte.  Auch warum ich es vor so vielen Monaten überhaupt auf diese Liste gesetzt hatte, war mir nicht mehr klar.

Das Lesen aber war ein Erlebnis. Essays aus den Jahren 2003 und 2004. Dabei die, wie ich finde, große Kunst, die eigene Person des Autors selbst immer wieder mit leichter Erzählweise an die Ereignisse „großer Politik“ und der Zeitgeschichte anzuknüpfen. Dabei Einblicke in Literatur zu gewinnen (hier auch vor allem österreichische Vertreter, u.a. Jean Améry, den ich nie als österreichischen Schriftsteller sah, aber zugegeben auch nur seinen Diskurs über den Freitod gelesen habe), indem man einen unglaublich belesenen Mann quasi zuhört. So wird eine Spannbreite erzeugt, die von nächtlicher Schlaflosigkeit, Eitelkeit beim Lesen der Rezensionen eigener Werke ausgeht und bis hin zu den Plünderungen des irakischen Nationalmuseums in Folge des Zweiten Irak-Krieges 2003 reicht. Es geht um eine Reportage der Lage der Roma in der Slowakei, um die Folterungen von Abu Ghraib, den Kapitalismus und die österreichische Bildungsministerin, die sich über die Lehrer beklagt, dass sie zu viel Ferien hätten und –  na, sie kennen das.

Darin finden sich weiterhin Repliken zu Berlusconi, Bush, Blair, Rumsfeld. Besprechungen von Theateraufführungen, wie z.B. eine wunderbare vom „Woyzeck“ im Salzburger Landestheater, flankiert von dem Hinweis, dass man in Salzburg den Sommer an den Bettlern erkennen kann. Oder besser gesagt: „Wenn der große amtliche Sommerputz sie aus der Innenstadt und von den vielen Plätzen gewischt hat, an denen sie knieend, kauernd, hockend aggressiv gebettelt hatten, dann ist, nein, dann herrscht wieder die schöne Jahreszeit.“

Und immer wieder geht es um Literatur. Und seit sehr langer Zeit habe ich mir wieder einen Bleistift ins Buch gelegt, um zu unterstreichen, Ausrufezeichen zu verteilen und mehr. Und bei allem Chaos, den ich hier grad ausschütte, schafft es der Autor immer wieder Zusammenhänge zu knüpfen, Überleitungen zu schaffen, die mindestens überraschen.

Ich musste die ganze Zeit an zwei andere Werke denken, die einen enormen Eindruck in meiner Lesebiografie auf mich machten und die ähnlich angelegt waren, vielleicht, aber mindestens in meinem Kopf waren:

  • Die Welt von gestern von Stefan Zweig
  • Der Wendepunkt von Klaus Mann

Alle drei aber haben mir Lust gemacht mehr zu lesen.