Ausgehend von einem beeindruckenden TED-Talk von Bryan Stevenson (We need to talk about injustice), den ich vor einer Woche das erste Mal sah, kam mir heute die Nachricht der Zeitung unter, nach der es gestern auf den Tag 150 Jahre her ist, dass die Sklaverei in den USA abgeschafft wurde (18. Dezember 1865) durch die Unterzeichnung des 13. Zusatzartikels zur Verfassung.
Der Vortrag von Stevenson hat vier große Abschnitte, die m.E. an verschiedene Themen des Unterrichts anknüpfen können. Der Talk ist mit Untertiteln downloadbar – aber selbst im Original gut nachvollziehbar.
https://www.youtube.com/watch?v=c2tOp7OxyQ8
Im ersten Teil erzählt er von seiner Familie und wie stark ihn ein Gespräch mit seiner Großmutter geprägt hat. Das ist der Gedanke, wie stark Identität von „sorgenden“ (caring) Erziehern/Lehrern beeinflusst werden kann.
Mir fiel dazu wieder eine Begegnung mit einem eigenen Lehrer ein, als ich etwa in der 11. Klasse war. Dieser Lehrer, mein ehemaliger Klassenlehrer in der 9./10. Klasse, Konrektor (!) der Schule, stand in der Aula und im Gespräch erwähnte er nebenbei, dass ich ja doch ziemlich intelligent sei. Auf meine Nachfrage, wie er denn darauf käme, meine Leistungen in der Schule seien ja nicht so gut, erläuterte er, dass ihm das auf der Klassenfahrt in der 9. aufgefallen sei, auf den Stadtführungen damals. Ich erinnerte mich dunkel, dass ich da unglaublich viele Fragen gestellt hatte, weil es eine geschichtliche Führung war, was mich halt einfach interessierte. Und er sagte, dass er das eben an den Fragen erkannt hatte.
Warum diese Geschichte? Weil ich bis heute in meinen Klassen, wenn ich sie neu bekomme, anfangs immer erwähne, dass in meinem Unterricht bei der mündlichen Mitarbeit nicht nur eine gute Antwort bewertet wird, sondern eben auch eine gute Frage. Zweitens weiß ich erst seit diesem Zeitpunkt, dass ich recht schlau bin, bzw. habe erst seit dem Moment ein Bewusstsein dafür entwickelt. Und drittens fällt mir selbst auf, wie selten bewusst ich Schüler lobe, direkt, für eine echte Eigenschaft, die sie zeigen (also nicht nur das Gemurmel im Unterrichtsgespräch: hm ja, gut, schön…brabbel) – weiß aber auf der anderen Seite, wie stark und lang manchmal Sätze bei Schülern hängen bleiben, die ich nur so dahin gesagt habe.
Im zweiten Bereich des Talks spricht Stevenson über die Ungerechtigkeit im amerikanischen Rechtssystem, in dem, nur als Beispiel, statistisch gesehen, unter den Inhaftierten und auf Bewährung Entlassenen zu einem unverhältnismäßig großen Anteil Schwarze gehören oder People of Color. Er bringt es auf den Punkt mit dem Satz, dass man es im amerikanischen Rechtssystem leichter habe, wenn man „weiß und schuldig“ sei als „schwarz und unschuldig“.
In diesem Zusammenhang erwähnt er auch die Todesstrafe und u.a. den Umstand, dass auf neun Hingerichtete ein Unschuldiger kommt. Oder dass in den USA 14jährige zu lebenslanger Haft verurteilt werden können. Auch spricht er über den Zusammenhang von Armut und Ungerechtigkeit im juristischen Sinn.
Und damit leitet er zum dritten Abschnitt über, und zwar zu der Frage, wie oder wieso diese Ungerechtigkeiten in der US-Gesellschaft nicht bewusst wahrgenommen, bzw. thematisiert werden. Als Anfangsbeispiel, und das fand ich sehr spannend, erwähnt er eine Rede, die er in Deutschland hielt. Und in diesem Zusammenhang gab er einen Beitrag aus dem Publikum wieder, in dem jemand erklärte, dass es in Deutschland keine Todesstrafe geben kann unter dem Eindruck der eigenen Geschichte, die es eben verbieten würde, gezieltes und organisiertes Töten von Menschen zu erlauben.
Stevenson ging noch darüber hinaus und deutete an, dass es weltweit für Aufsehen sorgen würde, wenn es in Deutschland die Todesstrafe geben würde und unter den Hingerichteten auffallend viele Juden seien – Während man es in den USA hinnimmt, dass unter den Inhaftierten und Hingerichtet so viele Schwarze sind.
Und damit kommt er zum Eigentlichen seines Vortrags, und zwar der „Identität“ der USA, wenn ich das so ausdrücken würde. Er spricht über das, was ich bisher immer als Mentalität bezeichnet hätte. Und er erwähnt damit, dass die Identität eben auch damit zusammen hängt, wie man mit seiner Vergangenheit und den eigenen Problemen umgeht. Bezogen auf die USA zeigt er sich erstaunt darüber, dass in einem Land, dass so stolz ist auf seine Technologie, seine Innovationskraft und Kreativität, diese Problematik so gänzlich abgekoppelt wird vom nationalen Bewusstsein.
Wenn ich noch einen vierten Abschnitt einzeln auffasse, dann erwähnt er hier die Begriffe Gerechtigkeit und Menschenwürde. Die kommen leider etwas zu kurz, können aber aus dem Zusammenhang, den er knüpft, recht gut erschlossen werden. Er erwähnt in diesem Zusammenhang, dass auch dazugehöre, dass einer, der lügt, nicht einfach ein Lügner ist (für immer) – einer, der etwas stiehlt, nicht immer ein Dieb – und selbst einer, der jemanden umbringt, nicht endgültig ein Mörder ist. Alles Fragen, die sich um ein grundlegendes Menschenbild und damit ein bestimmtes Rechtsverständnis drehen.
Mit dem TED-Vortrag tauchen folgende Fragen und damit Unterrichtsmöglichkeiten für mich auf:
1. Die pädagogische Forderung, sich einzugestehen, dass man als Lehrer eben doch eine ganze Menge Einfluss auf die Kinder hat – was man gern vergisst und übersieht in dem Lamento, dass die letzte Schulaufgabe so schlecht ausgefallen sei und „die mal wieder gar nichts gelernt“ hätten.
2. Der Vortrag als Grundlage in einer Diskussion um die Thematik Todesstrafe. Warum keine Doku über Todeszellen? Eben weil so wenig Dramatik zu sehen ist, sondern nur ein guter Redner. Weil sich hinter den Worten die ganze Tragweite der dargestellten Gedanken anknüpft.
3. Als Frage zur Thematik der „Erinnerungskultur“ einer Gesellschaft. Dieser kurze Abschnitt über die Äußerungen bezüglich der deutschen Haltung zur Todesstrafe finde ich einen sehr guten Ansatz, um über die Sinnhaftigkeit von Erinnerung, lebendiger Geschichte etc. zu sprechen. Auch weil es eben hier nicht darum geht, wie es PEGIDA und Co so gern sehen möchte, „verantwortlich für die Geschichte zu sein“ oder „schuldig“, sondern eben darum, verantwortlich für die Gegenwart zu sein – und das aus dem Gedanken des Humanismus heraus, nicht des national Beschränkten.
4. Auch als interessanten Blick darauf, wie „Länder“ (in dem Fall eben auch Deutschland) von außen wahrgenommen werden.
5. Als Diskussionsgrundlage zum Thema Grundrechte, Menschenwürde und Grundlagen des Strafrechts. Gerade die Diskussion um die Höhe von Strafen, speziell der lebenslangen Inhaftierung tauchen im Unterricht ja immer wieder auf.
Weiterführende Links
Interview mit Stevenson auf Zeit-Online
BR2 Wissen – Podcasts und Arbeitsblätter zum Thema Strafrecht